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Eine zufriedenstellende Lebensqualität ist essenziell für die Nachhaltigkeit der Landwirtschaftsbetriebe. Dennoch sind die wissenschaftlichen Kenntnisse zur Lebensqualität in der Schweizer Landwirtschaft bisher begrenzt.

Aufgrund diverser weitreichender Anpassungen im Schweizer Milchsektor seit Beginn der 2000er-Jahre, wie der Abschaffung der Milchkontingentierung, erfahren Milchproduzentinnen und -produzenten scheinbar stärkere finanzielle und psychische Belastungen als andere Produzentinnen und Produzenten.

Ein Projekt der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften HAFL und der AGRIDEA legte deshalb den Fokus auf die Lebensqualität (LQ) in der Milchproduktion: Das Projekt erforschte die Bedeutung der LQ für Milchproduzentinnen und -produzenten und deren Strategien, um eine gute LQ zu erreichen oder zu erhalten.

Das Projektteam führte mit 30 Milchproduzentinnen und -produzenten von 16 Betrieben sowie mit 15 Beratungspersonen qualitative Interviews oder Gruppendiskussionen. In der Regel nahmen pro Betrieb zwei Personen an der Studie teil: je nach Verfügbarkeit das Betriebsleiterehepaar oder der Senior und der Sohn bzw. die Schwiegertochter.

Um LQ-Strategien zu erheben, die sich bewährt haben, interviewte das Projektteam Milchbauernfamilien, die angaben, eine gute LQ zu haben. Zudem sollte die Untersuchungsgruppe eine gewisse Diversität aufweisen (z. B. Tal-, Hügel- und Bergbetriebe; verschiedene Betriebsstrukturen). Es zeigte sich, dass die Betriebe der Studie verglichen mit dem durchschnittlichen Schweizer Milchwirtschaftsbetrieb eher gross und in einem finanziell guten Zustand sind.

Mit dem Konzept «Lebensqualität» (LQ) wird beschrieben und gemessen, wie gut Gesellschaften und Individuen leben, also wie hoch ihre LQ ist. LQ ist ein wichtiger Teil der sozialen Nachhaltigkeit und umfasst eine subjektive und eine objektive Dimension. Im Gegensatz zu subjektiven Kriterien («persönliche Einschätzung»), lassen sich objektive Kriterien «von aussen» beobachten oder gar messen. Es gibt keine einheitliche Definition des LQ-Konzepts.

Das Projektteam erarbeitete, basierend auf internationalen theoretischen Konzepten, einen eigenen Ansatz mit drei Komponenten:

  1. Subjektive Komponente, bestehend aus «kognitivem Wohlbefinden» (z. B. Zufriedenheit), «emotionalem Wohlbefinden» (z.B. Freude oder Sorgen) und «eudaimonischem Wohlbefinden» (z.B. Sinnhaftigkeit, Lebensinhalt)

  2. Objektiv-materielle Komponente, z.B. Einkommen, Wohnbedingungen

  3. Objektiv-nicht-materielle Komponente, z.B. Gesundheit, Freizeit (siehe auch Tabelle 1).


Literatur

Antonovsky, A. (1997). Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: Dgvt.

Bandura, A. (1977). Self-efficacy: Toward a unifying theory of behavioral change. Psychological Review 84(2): 191 – 215.

OECD (2013). OECD Guidelines on Measuring Subjective Well-being. OECD Publishing http://dx.doi.org/10.1787/9789264191655-en.

Zapf, W. (1984). Individuelle Wohlfahrt: Lebensbedingungen und wahrgenommene Lebensqualität. In: Glatzer, W. und Zapf, W. (eds), Lebensqualität in der Bundesrepublik. Objektive Lebensbedingungen und subjektives Wohlbefinden. Frankfurt a.M.: Campus Verlag, 13 – 26.


Lebensqualität aus Sicht der Milchproduzentinnen und -produzenten

Was die interviewten Milchproduzentinnen und -produzenten unter guter LQ verstehen, ist sehr unterschiedlich. Dennoch sind elf Gruppen von Kriterien erkennbar (vgl. folgende Tabelle). Die meistgenannten Kriterien lassen sich der Gruppe «Zeit» zuordnen: «Freizeit» zur Erholung und zur Reduktion des alltäglichen Stresses, «Ferien», «Zeit für die Familie und für sich selbst». Auch «Zeit zum Nachdenken und Planen» gehört dazu: Das ist auch eine Grundvoraussetzung für das Planen und Umsetzen von lebensqualitätserhaltenden oder -verbessernden Strategien und geht mit «nicht immer hetzen müssen» einher. Wer immer nur hetzt und nie Zeit zum Nachdenken und Planen hat, dreht sich in einem Hamsterrad. Diese Studie zeigt, dass die meisten Interviewten für eine gute LQ zwar keine vier Wochen Ferien benötigen, aber die Möglichkeit wichtig ist, dem Alltag regelmässig zu entfliehen, regelmässig freie Tage zu haben oder manchmal am Sonntag auszuschlafen.

Andere Kriterien der LQ sind explizit auf die Milch- bzw. Landwirtschaft bezogen. Die Vielfalt der Tätigkeiten, ihre Kombinierbarkeit mit anderen Aktivitäten, draussen in der Natur arbeiten, die «Liebe zur Kuh» und die Bewunderung dieser Tiere sind wichtige Voraussetzungen für die Freude an der Arbeit und somit auch für eine gute LQ. Technische Hilfsmittel, die die Arbeit erleichtern und körperlich weniger anstrengend machen, tragen weiter zu guter LQ bei. Schliesslich sind die Freude an den eigenen Produkten sowie die Wertschätzung der Konsumierenden wichtige Kriterien für eine gute LQ, da dadurch das eigene Tun als sinnvoll empfunden wird.


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Elf Gruppen von LQ-Kriterien aus Sicht der Bauernfamilien, je mit einem Beispielkriterium.


Lebensqualität reduzierende Faktoren

Aus Sicht der Milchproduzentinnen und -produzenten verschlechtert sich die eigene LQ, wenn eines oder mehrere der oben genannten Kriterien nicht erfüllt sind. Ein wichtiger, die LQ reduzierender Faktor ist «immer an den Betrieb gebunden zu sein» im Sinne von zweimal täglich melken müssen, ohne Möglichkeit, den Betrieb an einem oder mehreren Tagen verlassen zu können. Finanzielle Schwierigkeiten, Probleme in der Familie, Partnerschaft oder zwischen den Generationen, eigene Gesundheitsprobleme oder solche von Familienmitgliedern, Arbeitsüberlastung oder die alleinige Verantwortung für den Betrieb vermindern die LQ aus Sicht der Interviewten ebenfalls. In Zusammenhang mit der Milchviehhaltung können Tierkrankheiten oder Milchqualitätsprobleme die LQ reduzieren. Schliesslich wirkt die Kritik der nicht-landwirtschaftlichen Bevölkerung, beispielsweise im Rahmen von Volksinitiativen oder bei Begegnungen am Feldrand, LQ reduzierend.
 

Strategien zur Steigerung der Lebensqualität

Das Projekt fasste die individuellen Strategien zur Verbesserung oder zum Erhalt der LQ unter die Bereiche Arbeitsstruktur, Arbeitserleichterung, Abgrenzung, Horizonterweiterung und angepasste Betriebsausrichtung, welche wiederum je eine technische, organisatorische oder persönliche Ebene haben. Entsprechend dem für die LQ zentralen Kriterium «Zeit» zielen die meisten Strategien darauf ab, die Arbeit und den Alltag so zu organisieren, dass mehr freie Zeit und auch Raum für Veränderungsmöglichkeiten entsteht. Nebst der angepassten Stalleinrichtung sind eine gute Personenkonstellation, Arbeits- und Freizeitplanung sowie Generationen- oder Betriebsgemeinschaften von Vorteil. Weitere bewährte Strategien der Interviewten sind die Erhöhung der Wertschöpfung durch Direktvermarktung oder Bioproduktion, oder die Aufgabe von Betriebszweigen, die keine Freude bereiten.

Aufgrund bisheriger Studien war eher überraschend, dass «Zeit» für eine gute LQ von grosser Bedeutung ist: Etwa «Freizeit» im Sinne von freier Zeit wirkt dem LQ reduzierenden Faktor «immer an den Betrieb gebunden sein» entgegen. Eine neue Erkenntnis ist auch die Wichtigkeit von «Zeit zum Nachdenken und Planen». Diese ist nicht nur eine Voraussetzung für das Planen und Umsetzen von LQ verbessernden Strategien, sondern auch um erfolgreich Milch zu produzieren. Hier sollten Forschung und Beratung ansetzen und die Produzentinnen und Produzenten unterstützen bei z.B. «wie und wann nehme ich mir Zeit zum Planen?», «wie komme ich zu guten Ideen, und wie setze ich sie um?» Zudem sollten bei zukünftigen Studien nicht nur das kognitive Wohlbefinden (Zufriedenheit) sondern auch das emotionale sowie eudaimonische Wohlbefinden (z.B. die Handlungsfreiheit) beurteilt werden.

Die Studie zeigt, dass LQ verbessernde Strategien oft auf technischer oder organisatorischer Ebene angesiedelt sind. Für die Beratung heisst das, dass LQ nicht separat, sondern integriert in fachliche Beratung angesprochen werden sollte. Das Projekt regt an, in einem Leitbild für die Schweizer Landwirtschaftsberatung LQ als zentrale Orientierungsgrösse bei strategischen Entscheidungen vorzusehen. Weiter sollen die Beratungskräfte geschult werden, LQ Fragen gezielt in die Beratung zu integrieren. So können Milchproduzentinnen und -produzenten unterstützt werden, eine gute LQ zu erreichen oder zu erhalten.

Auch unabhängig von einer Beratung ist es für Produzentinnen und Produzenten lohnenswert, sich immer wieder bewusst Zeit zu nehmen, um über den Stand der eigenen LQ nachzudenken, als Paar oder in der Familie darüber zu sprechen und gegebenenfalls Strategien auf technischer, organisatorischer oder persönlicher Ebene einzuleiten, um eine gute LQ zu erreichen.

Schlussfolgerungen

Diese Studie machte neue bzw. detailliertere Kriterien für die LQ von Milchbauernfamilien ausfindig, erweiterte bestehende Konzepte von LQ und zeigte Vorschläge für Forschung und Beratung auf. So wie es keine allgemeingültige Definition von guter oder schlechter LQ für Milchproduzentinnen und -produzenten gibt, gibt es auch nicht die Strategie zur Lebensqualitätsverbesserung. Vielmehr müssen Milchbauernfamilien für sich geeignete Massnahmen finden. Diesen Prozess können die Forschung und die Beratung unterstützen, mit konkreten Massnahmen, wie im Projekt aufgezeigt. Wichtig für alle Milchproduzentinnen und -produzenten ist, immer wieder bewusst Zeit zum Nachdenken und Planen freizuschaufeln: Nicht nur fürs Umsetzen von LQ verbessernden Strategien (Arbeits- und Freizeitplanung), sondern auch um erfolgreich Milch zu produzieren.

Isabel Häberli und Dr. Sandra Contzen, Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften BFH-HAFL, sandra.contzen@bfh.ch

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